Seit fast vier Jahren habe ich keinen Eintrag mehr für dieses Blog verfasst. Dieser Blogeintrag beschreibt, wie es weiterging bei uns und ist gleichzeitig eine Antwort auf Elena’s Diskussionsbeitrag unter dem Blogeintrag „Eine neue Perspektive“ (am besten diesen Blogeintrag zuerst einmal durchlesen).
Hier möchte ich zunächst einmal Elena’s Beitrag zitieren:
Hallo ,
ich bin selber arbeitende Alleinerziehende Mutter a zwei Kinder – keine einfachen Kinder , aber wer/was ist schon einfach…
Mein Sohn ist mittlerweile 13 jahre alt und Gymnasiast in ein Münchener Gymnasium. Die von dir beschriebene Verhältnisse kenne ich leider zu gut.
Dazu kommt das mein Sohnemann eine viel , viel zu niedrige Frustationsgrenze hatte und manchmal noch hat,in alle Bereiche .
Als mein Sohnemann die dritte Klasse noch besuchte , wurde bei ihn eine nichtvorübergehende Legastenie UND ADHS festgestellt . Sein Vater hat es auch .
Jedoch- da ich gegen Retalin bin , habe ich mir andere Wege ausgedacht .
Somit , habe ich Ihn in damals sofort im ein Hockeyvereins angemeldet wo er immer noch 3 mal / Woche trainiert und am WE Hockeyspiele hat.
Zusätzlich dazu , 2mal/ Woche an die Isar joggen gehen ( ich radle dann mit 😦
10 stunden Schlaf sind seitdem Pflicht .
Fernsehen gibt es nur am WE , wenns unter der Woche sein muss/ musste , dann ARTE oder Animal Planet nach den Hausaufgaben.
Haushalt mit organisieren bzw. Verantwortung übernehmen .
Computer , PCs Spiele , etc., maximal 2 Stunden am WE als Belohnung .
Er musste mir jeden Abend 15-20 min. Lesen , dann ich ihm..
Ich habe Spielabende eingeführt ..
Vitamin D über den Winter …
Nicht nur seine Grenzen sondern auch meine sind dadurch enger geworden .
USW.
Und siehe da , er hat es mit 1,66 ins Gymi geschafft ( obwohl der Arzt meinte ” unter diese Vorausetzungen , niemals !”) , ist Klassensprecher ,hat sich zu eine Leseratte entwickelt , joggt gerne bis zu 7 km.und hört Musik dabei , hat jede Menge Spaß am Hockey , und liebt mich immer noch;-) .
Klar , es ist arg anstrengen ,man muss als Mutter viel , viel erklären , sich oft wiederholen , manchmal / oft schimpfen dabei – ab und zu selber sein Wut kontrollieren , jedoch – mei , wir wollten sie haben 🙂 . Zum Glück !
Und meinen 10 Jährige Tochter ( ADHS , bekommt auch kein Ritalin )schadets das Ganze und in der Form auch nicht. Obwohl sie extrem Meinungsstark und manchmal ” beratungsresistent” ist – ich habe das Sagen . Sie spielt Hockey, halbe Stunde täglich Spazieren ist Pflicht ,Malt in jeder freie Minute und geht ab Sept. zum Gymnasium . Als Belohnung , kriegt sie das was sie sich arg wünscht : Gittarenunterricht .
Ergo : Kinder ( ich denke nicht nur meine ) brauchen viel Bewegung und strenge Grenzen..meiner Meinung nach.
Ganz liebe Grüße und viel Glück ,
Elena
Nun folgt meine Antwort.
Liebe Elena,
Ich gebe Dir in fast allen Punkten vollkommen Recht.
„Kinder brauchen viel Bewegung und strenge Grenzen“ – ganz genau richtig.
Super, dass Ihr das ADHS ohne Ritalin so gut in den Griff bekommen habt!
Der einzige Punkt, in dem ich glaube ich eine andere Meinung habe ist, dass Du schreibst, Du lehnst Ritalin ab – generell ab, wenn ich Dich richtig verstehe. Ich finde, solange man das ADS oder ADHS anders in den Griff bekommt und die Kinder keinen Schaden davon tragen (z.B. eine schlechte Schulbildung oder keinen Schulabschluss) sollte man ruhig auf Ritalin verzichten. Aber es ist sicherlich von Fall zu Fall unterschiedlich, ob man es ohne Ritalin schafft oder nicht. Es spielt die Stärke des AD(H)S eine Rolle, die genetische Veranlagung des Kindes und auch die erzieherischen Fähigkeiten der Eltern. Ich glaube, wenn man es anders nicht in den Griff bekommt, ist es besser, einem Kind Ritalin zu geben bevor es wegen ADHS einen schlechten Start im Leben hat.
Ein Riesenvorteil ist es natürlich, wenn man überhaupt erst einmal erkennt, dass das Kind AD(H)S hat. Und wenn man es möglichst frühzeitig erkennt. Dann kann man ganz bewusst damit umgehen, es gibt ja ganze Bücher darüber, wie man mit AD(H)S auch ohne Medikamente leben kann. Man kann sich in Ruhe damit auseinandersetzen und alles versuchen – und immer noch auf Ritalin zurückgreifen, wenn es alles andere nicht oder nicht ausreichend hilft.
Bei uns war es so, dass mein Sohn, als ich den Artikel oben geschrieben habe, 16 Jahre alt und im letzten (Haupt-)Schuljahr war.
Wir haben Ritalin in einer geringen Dosis in Absprache unserer Hausärzing getestet: schon 10 mg hatten eine spürbare Wirkung. Ich möchte kurz erzählen, wie unser erster Test war:
Mein Sohn war gerade dabei, aus dem Internet Informationen für eine Arbeit für die Schule zu sammeln. Er saß an meinem Computer und recherchiert und nahm eine 10 mg Tablette Ritalin. Ich saß an einem anderen Tisch und arbeitete. Nach ca. 20 Minuten sagte mein Sohn, „nee Mama, ich merk‘ gar nichts von dem Ritalin“ und klickte weiter im Internet herum. Dann drehte er sich irgendwann um und begann, mir etwas von seiner Schule zu erzählen. Wir kamen in ein entspanntes (!) Gespräch (!) und unterhielten uns über seine Schule, über Freunde und Lehrer. Es entwickelte sich ein sehr gutes und langes Gespräch. Wir hatten schon Jahre nicht mehr so miteinander gesprochen! Ich machte meine Sohn darauf aufmerksam und fragte ihn, ob er meine, dass es mit dem Ritalin zusammenhängen könnte. Er sagte ja, auf jeden Fall, denn er habe sonst wirklich nie Lust und Geduld, sich länger mit mir zu unterhalten und jetzt habe er richtig Lust zu erzählen.
Wir haben dann in Eigenregie mit den 10mg-Ritalin-Tabletten noch ein wenig herumexperimentiert , er hat auch in der Schule Ritalin genommen und berichtete, dass ihm die Schule damit extrem leichter falle, er könne aufpassen und sich alles merken.
Daraufhin meldete ich meinen Sohn bei einer auf AD(H)S spezialisierten psychologischen Gemeinschaftspraxis an. Er wurde dort gründlich getestet und der Befund war, dass er ADS hatte. Er bekam psychologische Beratungsgespräche bei einem Psychologen und die darauf spezialisierte Ärztin stellte zusammen mit ihm die passende Dosis (und die passende Form, da gibt es nämlich Unterschiede bzgl Wirksamkeitskurve während des Tages) Ritalin ein.
Von da ab ging es bei meinen Sohn nur noch bergauf in der Schule.
Wir haben den Lehrern in der Schule nicht gesagt, dass mein Sohn nun Ritalin nimmt, weil es so viele Vorbehalte dazu gibt.
Ich kann mich noch an den Elternsprechtag im zweiten Halbjahr erinnern. Dieses Schuljahr war ja extrem wichtig, weil es das Abschlussjahr der Hautpschule war! Mein Sohn hatte noch im ersten Halbjahr dieses Abschlussjahres sehr schlechte Noten gehabt! Erst im April hatten wir mit Ritalin angefangen. „Es sieht so aus, als ob Ihr Sohn im letzten Moment die Kurve kriegt“ meinte der Klassenlehrer meines Sohnes. Mein Sohn sei vollkommen verändert: aufmerksam, pflichtbewusst, aufnahmebereit und er gibt immer kluge Beiträge. Die Noten seien einfach phänomenal, im Vergleich zu vor wenigen Monaten. Er habe kaum jemals so eine Wende gesehen. Diese Entwicklung sei fast ein Wunder. Mein Sohn sei den meisten seiner Klasse voraus und könne, wenn er so weitermache, nach seinem qualifizierten Hauptschulabschluss auf den weiterführenden M-Zweig wechseln um auf der Schule nächstes Jahr die mittlere Reife zu machen.
Auch die anderen Lehrer äußerten sich alle in überaus lobenden Tönen und überrascht darüber, dass mein Sohn im zweiten Halbjahr des letzten Schuljahres noch so zur Vernunft gekommen war.
Als ich von diesem Elternsprechabend von der Schule nach Hause lief war ich fast fassungslos und fühlte mich so leicht und unbeschwert wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. So einen Elternsprechtag hatte ich noch nie erlebt! Früher war es genau das Gegenteil gewesen: düstere Zukunftsprognosen, Warnungen, Druck. Zukunftssorgen – realistische, begründete Zukunftssorgen!
Der Hauptschulabschluss fiel dann sehr gut aus und mein Sohn schaffte alles mit großer Leichtigkeit. Er hatte einen Erfolg nach dem anderen, eine super Note nach der anderen. Er wechselte auf den M-Zweig der Hauptschule und machte seine mittlere Reife.
Danach besuchte er die FOS, die er aber wegen mangelndem Durchaltevermögen und weil er nie gelernt hatte, zu lernen, zweimal abbrach. Es folgte eine Ausbildung, die er aber auch nach einem halben Jahr abbrach, weil er sie langweillig fand. Das war für mich wieder eine überaus sorgenvolle Zeit. Ritalin alleine ist kein Garant auf ein erfolgreiches Leben. Es gehören Disziplin, Wille, Durchhaltevermögen dazu.
Durch einen glücklichen Zufall bekam mein Sohn dann aber einen Ausbildungsplatz in seinem Traumberuf: Anwendungsprogrammierer. Er wird bald 21 Jahre alt und macht im Moment mit bestem Erfolg die Ausbildung. Er geht mit Lust und Freude hin und ist zielstrebig.
Mein Sohn nimmt immer noch Ritalin und treibt leider KEINEN Sport – das macht mir etwas Sorgen, denn wie Du, Elena, glaube ich, dass Sport das ADS Problem erleichtern würde. Er ist aber ansonsten einigermaßen vernünftig und ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit bis er anfängt, Sport zu treiben. Es wird sich zeigen, ob er aus dem Ritalin irgendwann herauswächst. Der Körper, die Hormone etc. ändern sich ja im Laufe des Lebens.
Wir wohnen seit 1,5 Jahren nicht mehr zusammen. Ich bin zudem aus beruflichen Gründen vor einem halben Jahr in eine ca. 300 km entfernte Stadt gezogen. Wir haben guten Kontakt und unser Verhältnis ist insgesamt sehr gut.
(Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass das Modell „Alleinerziehen“ katastrophal für unsere Gesellschaft ist und den Kindern und alleinerziehenden Müttern schadet.)
Ich wünsche Dir, lieber Elena, und allen die dies lesen alles Gute weiterhin und dass sich Eure Kinder zu produktiven, verantwortungsvollen und glücklichen Erwachsenen entwickeln!